Erdogans kurdische Doppelstrategie – DW – 08.01.2025
“Künftig werden wir entschlossene Schritte gehen, um unsere Vision für eine Türkei und eine ganze Region ohne Terror zu verwirklichen”, sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan in seiner diesjährigen Neujahransprache. Seine Worte waren ein Verweis auf den derzeitigen Versöhnungsprozess zwischen Türken und Kurden, der vor etwa drei Monaten von Erdogans Koalitionspartner Devlet Bahçeli, dem Anführer der “Nationalistischen Bewegung” (MHP), eingeleitet worden war.
Erst über Jahre hinweg den Tod einer Person fordern und ihn dann plötzlich ins Parlament einladen? Genau dies tat der Ultranationalist Bahçeli vor drei Monaten und überraschte damit die gesamte türkische Öffentlichkeit. Bevor er diese Initiative ergriff, hatte seine Partei jahrelang die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert, hauptsächlich damit der inhaftierte Anführer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, hingerichtet werden sollte. Nun aber verfolgt die MHP, die seit 2015 als Mehrheitsbeschaffer für Erdoğans AKP dient, die Idee, Öcalan ins Parlament einzuladen, damit er dort in einer Rede die Kämpfer der PKK auffordert, ihre Waffen niederzulegen.
Zeit für Hoffnung?
Die 1978 gegründete paramilitärische PKK wird in der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft und befindet sich seit 1984 im bewaffneten Konflikt mit dem türkischen Staat.
Insgesamt gibt es heute rund 30 Millionen Kurden, nach Ende des Ersten Weltkrieges wurde ihr Siedlungsgebiet im Wesentlichen zwischen der Türkei, Syrien, dem Iran und dem Irak aufgeteilt. Seitdem kämpfen die Kurden für einen eigenen Staat oder zumindest für mehr Selbstbestimmung. Ein Autonomiestatus blieb ihnen in der Türkei bis heute verwehrt. Dem gewaltsamen Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen PKK sollen zwischen 1984 und 2009 rund 40.000 Menschen zum Opfer gefallen sein. PKK-Gründer Öcalan sitzt bereits seit 1999 in einem Gefängnis auf der Insel Imrali im Marmarameer.
Vor diesem Hintergrund überraschte der türkische Ultranationalist Bahçeli Anfang Oktober 2024 die türkische Öffentlichkeit, als er im Parlament die Hände von Vertretern der pro-kurdischen “Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker” (DEM) schüttelte. Nur wenige Tage später richtete er den Appell an PKK-Anführer Abdullah Öcalan, die Waffen niederzulegen. Kurz danach verwies er auf die “tausendjährige Brüderlichkeit” zwischen Türken und Kurden und sagte: “Das Problem der Türkei sind nicht die Kurden, sondern ihre separatistische Terrororganisation. Öcalan sollte ins Parlament kommen und verkünden, dass die PKK aufgelöst wird.” Der Angesprochene reagierte positiv und erklärte sich bereit, dahingehend “Verantwortung zu übernehmen”.
Nach Bahçelis Appell besuchten am 28. Dezember zwei Vertreter der pro-kurdischen DEM Öcalan im Gefängnis von Imrali und sagten danach, sie seien “voller Hoffnung.” Momentan gibt es Konsultationen der DEM-Politiker mit Vertretern der Erdoğan-Regierung sowie der Opposition.
Alles für Erdoğan?
Einige Beobachter vermuten, dass hinter der derzeitigen Initiative ein realpolitisches Ziel steckt: Erdoğan nach 2028 eine neue Amtszeit zu ermöglichen, die laut jetziger Verfassung unmöglich wäre.
Technisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten, damit Erdoğan doch erneut kandidieren kann: Entweder wird die Verfassung geändert oder das Parlament entscheidet sich für vorgezogene Neuwahlen. Der Knackpunkt: Für eine derartige Entscheidung fehlen dem Regierungsbündnis 45 Sitze. Die DEM stellt insgesamt 57 Abgeordnete im Parlament – mit deren Hilfe könnte eine vorgezogene Neuwahl beschlossen werden.
Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabanci-Universität in Istanbul sieht einen weiteren möglichen Hintergrund: Die AKP, so Esen gegenüber der DW, könne derzeit keine Wahlen mehr gewinnen, weil ihr das kurdische Votum fehle: “Das Erdoğan-System steckt in einer großen politischen und wirtschaftlichen Krise. Das haben wir bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2023 beobachten können. Unter den derzeitigen Bedingungen wählen die kurdischen Wähler lieber die Kandidaten der Opposition” – ein Trend, den Erdoğan rückgängig machen wolle.
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge machen Kurden etwa 15 bis 20 Prozent der türkischen Bevölkerung aus. Das Regierungsbündnis habe etwas unternehmen müssen, um den Abwärtstrend zu stoppen, so Esen. Außerdem könne es sich bei der Initiative nicht um einen Alleingang der MHP handeln: “In unserem autoritären System kann man so einen Vorstoß ohne Zustimmung Erdoğans nicht wagen”, ist sich Esen sicher.
Falscher Optimismus?
“Als die AKP die Kommunalwahlen am 31. März verlor, verstand sie, dass die Strategie der kulturellen Polarisierung nicht mehr funktioniert”, glaubt auch der Politikwissenschaftler Deniz Yıldırım. Nur versucht die türkische Regierung einen Aussöhnungsprozess mit den Kurden im eigenen Land nicht zum ersten Mal. Schon in der Vergangenheit gab es offiziell Initiativen, um kurdischen Forderungen gegenüber dem türkischen Staat nachzukommen. Diese Versuche nannte man “Öffnung”, “Lösungs-” oder “Normalisierungsprozess” – bisher sind alle gescheitert.
Welche Aussichten auf Erfolg gibt es also dieses Mal? “Wenn Politiker in der Öffentlichkeit sagen, dass sie voller Hoffnung sind und damit andeuten, dass der Frieden näher denn je ist, muss es hinter geschlossenen Türen einen gewissen Fortschritt gegeben haben – der Prozess muss einigermaßen fortgeschritten sein”, sagt Yıldırım, warnt aber gleichzeitig vor vorschnellem Optimismus:
“Natürlich muss die Türkei dieses chronische Problem mit friedlichen Mitteln lösen, damit kein Blut mehr vergossen wird. Allerdings wäre es naiv zu erwarten, dass dies in einer Zeit der autoritären Zentralisierung stattfindet, während gleichzeitig Presse- und Meinungsfreiheit im Land entwurzelt und Universitäten entmachtet werden.”
Keine Versöhnung hinter der Grenze
In Bezug auf die Kurden verfolgt die Türkei zudem momentan eine Doppelstrategie: Während im Inland um eine Versöhnung mit Öcalan und der PKK geworben wird, gehen von der Türkei unterstützte Milizen hinter der Grenze zu Syrien gegen die kurdischen Kämpfer der YPG vor. Diese sieht die Türkei als eine Bedrohung für ihre territoriale Integrität – genauso wie die PKK. Während die Türkei die YPG als syrischen Ableger der PKK betrachtet, wird diese von den USA unterstützt – was die Machtverhältnisse in der Region noch komplizierter macht.
Die Türkei fordert von der Übergangsregierung Syriens die Auflösung der Kurdenmiliz YPG, die weite Teile Nordsyriens kontrolliert. Die Forderungen der Türkei sind aus kurdischer Sicht nicht realistisch, erklärt Politikwissenschaftler Esen: “Nach langjährigem Blutvergießen hat sich die YPG im Nordosten Syriens als Machtfaktor etabliert. Unabhängig davon, was für eine Einigung in der Türkei zustande kommen könnte, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie die Waffen niederlegt.”
Mitarbeit: Gülsen Solaker